MALI - eine Menschen-Safari

Durch tintenschwarze Nacht fliegen wir mit der service-armen königlich marokkanischen Fluggesellschaft über die Sahara - da taucht die Stadt auf: Bamako, ein orange glitzernder Seestern, von Dunkelheit umgeben, denn die wenigen Verbindungsstraßen aus der Stadt heraus sind unbeleuchtet. Nachts um halb drei ist der Service am Flughafen sparsam. Wir schlendern über das Rollfeld, der kleine Trupp weiße Touristen und viele Malier. Jetzt sind wir die Exoten unter den Schwarzen, die Frauen in farbenfrohe Gewänder gehüllt mit kunstvoll geschlungenen Kopfbedeckungen. Ich rieche den ersten Hauch der rotbraunen Erde, die mir bald permanent die Nase verstopfen wird.

"Ich bin in Afrika - zum ersten Mal!" Bei der Vorstellungsrunde am Flughafen Casablanca ernte ich für diese Offenbarung von den erfahrenen Globetrottern eine Mischung aus Anerkennung und Mitleid: "Und dann ausgerechnet dieses Land - ein harter Einstieg in Afrika..."
Mali - eines der zehn ärmsten Länder der Welt, knapp zwölf Millionen Einwohner, Durchschnittseinkommen 45 Euro im Monat. In weiten Teilen des Landes kein fließendes Wasser, kein Strom, kaum Straßen, weder Abfallentsorgung noch Kanalisation. Laut Oxfam leben 80 Prozent der Malier unter der Armutsgrenze, 85 Prozent sind Analphabeten. Die Kindersterblichkeit liegt bei 40 Prozent, das Durchschnittsalter bei 46 Jahren - neben Mangelernährung und der schlechten Hygiene drohen Krankheiten wie Malaria, Gelbfieber, Billharziose und AIDS.
Bei der Passkontrolle unterläuft mir schon der erste Fehler. Übernächtigt und treuherzig trage ich im Einreiseformular "Journaliste" unter Berufsbezeichnung ein. Der Grenzer schaut lange und runzelt die Stirn. "Sowas gibt man in so einem Land nie an", wissen die erfahrenen Mitreisenden. Doch die Staatsgewalt, die stets mit Genuss ihre Kontrolle zelebriert und oft über offizielle Gebühren hinaus Backschich abknöpft, macht es halb so wild. Ein Blick auf den Presseausweis und die Angabe des Mediums, für das ich arbeite, reichen.
Kaum setzt man einen Schritt vor den Flughafen-Eingang, geht der erste Ansturm der Einheimischen los. Junge Kerle rangeln darum, unser Gepäck die 20 Meter zum Bus zu tragen und helfen, es zu verladen. Im Tumult taucht unser einheimischer Guide, Adama, zum ersten Mal auf. Für Begrüßungsworte fehlt die Zeit. Adama versucht, uns so schnell wie möglich ins Hotel zu verfrachten und sammelt rasch einige Euro- und Cent-Münzen ein, um die Meute zu bezahlen. Trotzdem gibt es gleich Ärger und Vorwürfe, weil einige angeblich leer ausgehen. Im Durcheinander halte ich Adama für den ersten Betrüger in Mali, den ich beobachte. In den folgenden Tagen lerne ich, mir sein Hemd zu merken, um in unübersichtlichen Situationen unter vielen schwarzen Köpfen meinen Leuchtturm zu finden.
In der Nacht wirken die Straßen wie ein einziges Slum. Manche Menschen sitzen um kleine Kohlefeuer, andere vor neongrell erleuchteten Verschlägen mit Waren. Viele schlafen am Wegesrand (Bürgersteige gibt es nicht), vor Hütten, oft ohne Decken oder Matten.
Gegen vier Uhr morgens schwitzen Astrid und ich unter dem hermetisch ins Bett gestopften Moskitonetz im Hotelzimmer und versuchen, zum Surren der Klimaanlage nach 18 Stunden Anreise für drei Stunden ein Auge zuzutun.

Tag 2
Unser deutscher Reisebegleiter Jörg hatte uns bereits auf die Bescheidenheit der Unterkünfte eingestimmt mit dem Hinweis, dass dieses Hotel in Bamako das Beste, und das Frühstück für 4,50 Euro das Üppigste sei, das wir auf der ganzen Reise bekommen würden. Ich freue mich auf dem Weg zum "petit déjeuner" auf eine nette Gebäckauswahl, vielerlei Brotauflagen und Marmeladen, Cerealien und Früchte, vielleicht Eier ohne Speck (islamisches Land)? Ich stelle mir eine lange Theke mit Leckereien vor. Das "Buffet" ist dagegen etwas übersichtlich - trockene Croissants, Baguette, immerhin drei Sorten Kuchen, eine Schüssel Obstsalat, ein Häufchen Haferflocken - leider nur eine Marmelade, aber immerhin noch Butter, so viel man mag!
"Heute haben wir gut 400 Kilometer vor der Brust", bereitet Jörg uns schonungslos auf den heftigen Auftakt der Reise vor. Unser Reiseveranstalter Djoser lässt aus unerfindlichen Gründen der strapaziösen Anreise eine der längsten Tagesreisen folgen, über zum Teil sehr holprige Straßen in den Süden nach Sikasso. Unser 20-Mann-Bus - genau so einer, wie der Schulbus auf unserem Dorf in den 70er Jahren - fuhr vor 20 Jahren noch als Reisebus in Deutschland. Das erste Aufladen des Gepäcks auf das Dach dauert noch etwas länger. Ich beobachte derweil die Geschäftigkeit vor dem Hotel - CD- und Schmuck-Straßenhändler wedeln mit ihren Waren vor unseren Nasen, Autos und Mopeds, Eselskarren und Handwagenzieher wirbeln um die Wette den rotbraunen Staub Bamakos auf. Noch am frühen Morgen beim ersten Blick aus dem Fenster sah ich eine bunt gekleidete Frau, die gemessenen Schrittes mit einer Schale auf dem Kopf den Hof überquerte - und fühlte mich ins Dschungelbuch versetzt. Die Assoziation verfliegt bald.
Der Husten, den ich mir kurz vor der Abreise doch noch zugezogen hatte, wird im Lauf des Tages schlimmer. Ein Temperaturunterschied zu Deutschland von 20 bei weit über 30 Grad und die staubtrockene Luft schnüren die Bronchien zu, so dass das Husten bald schmerzhaft wird. Zu allem Überfluss reißt auf der Strecke mit den wagenradgroßen Schlaglöchern der Kühler. Unsere afrikanischen Improvisationskünstler - Adama, le petit Dogon, und Busfahrer Soryi, le calm Malinké - basteln so schnell es eben geht. Die Männer der Gruppe - fünf bei zehn Frauen - haben gute Ratschläge parat. Gut eine Stunde Rast bei 38 Grad im Schatten sind unvermeidlich. Ansonsten stundenlang die gleiche Landschaft rechts und links der schnurgeraden Straße - dornige Büsche, Bäume mit staubgrünem Laub, knisternd trockenes Gras.
Unterwegs liegen viele Dörfer an der Straße, die immer das gleiche Bild abgeben: Lehmhütten und windschiefe Holzverhaue, unbefestigte Wege, massenweise Plastikmüll, hirsestampfende Frauen, schreiende, winkende, lachende, rennende Kinder. Ich denke, irgendwann müssen die "Slums" doch mal aufhören... Nach zwei Wochen weiß ich, so sehen viele Dörfer aus.
Abends, nachdem der Schweiß und Dreck des ersten Tages im Hotel abgespült, und der Hunger gestillt ist, bin ich bereit zu meinem ersten Halskettenkauf (von einem "echten" Touareg, so weit unten im Süden...?). Ich klage Adama in bröckeligem Französisch mein Leid über den erlittenen Klima- und Kulturschock. Er tröstet, übermorgen im Dogon-Land, seiner Heimat, wird alles besser. Aber die Rückfahrt von Timbuktu in Jeeps sei das Schlimmste. Meine Sorgen, ob ich diese Reise packe, werden größer. Nachts übertönen Astrid und ich mit unseren Hustenanfällen abwechselnd das Röhren der altersschwachen Klimaanlage.

Tag 3
Morgens gegen halb sechs wundere ich mich über das Heulen von Koyoten - bis mir dämmert, dass es die Muezzins mit ihrem ersten Aufruf zum Gebet sind. Als Highlights von Sikasso stehen die als Moschee genutzten Höhlen, ein Aufstieg auf das sie umgebende kleine Felsmassiv und die Stadt selbst auf dem Programm. Bei brüllender Hitze rumpeln wir über eine Sandpiste mit einigen Zwischenstopps - etwa, um uns unbekannte Bäume mit leuchtend roten Blütenkugeln zu betrachten oder verschämt aus sicherem Abstand ein einsames Gehöft zu knipsen. Mit dem Fotografieren ist das nämlich so eine Sache. Der Koran verbietet die Abbildung von Menschen, das wissen im moslemischen Mali viele. Manche wollen deshalb aus Überzeugung nicht fotografiert werden. Andere nutzen den Glaubensgrundsatz, um gegen Geld oder ein Geschenk doch zu posieren.
Die Felsenhöhle hat etwas kirchenhaftes mit ihrer Höhe und den schräg aufeinander zulaufenden Felswänden. Drinnen hocken Koranschüler im Finsteren und beten, Fledermäuse quieken, ein alter Mann lebt dort mit seinem Haufen Lumpen. Im engen Gang ins Innere der Höhle zwängen wir uns an einer Gestalt vorbei, die, den Oberkörper wiegend, einen Satz in immergleichem Singsang wiederholt. Nach ein paar Schritten wird mir der stickige Durchschlupf zu eng. Doch einige winden sich weiter zwischen toten Fledermäusen hindurch die paar Meter bis zum anderen Ende.
Den Aufstieg über Leitern auf das Felsplateau sparen wir uns. Sikasso ist vor lauter Dunst ohnehin nicht zu sehen, Astrid kann sich mit rheumatischen Gelenken nicht an Seilen hochziehen, mir sind vor Husten und Hunger schon die Knie weich. Später gebe ich noch dazu mit heftigem Nasenbluten ein Bild des Jammers ab. Ich kann es gerade zum Stillstand bringen, bis wir uns um die Ecke die animistische Opferstelle betrachten - einen Haufen Knochen, Schädel und Federn geopferter Tiere, die für Wünsche nach Fruchtbarkeit oder Reichtum geschlachtet wurden.
Dort begegnet uns auch eine Schaar kichernder junger Mädchen, alle in gleicher Kleidung - eine Schulklasse mit ihrem Lehrer, wie sich herausstellt. Mit großem Hallo bestehen sie auf ein Gruppenbild mit den Weißen und freuen sich über "cadeaus" - einige von uns schenken ihnen Kugelschreiber. Was hier noch in lustiger Atmosphäre und entspannt vor sich geht - das Verteilen milder Gaben an die Einheimischen - artet später oft zum reinsten Spießrutenlaufen unter kindlichen Geschenkejägern aus, oder führt zu Raufereien unter diesen um die mehr oder weniger sinnvollen Mitbringsel. "Cadeau" dürfte für viele Kinder das erste Wort auf Französisch sein, das sie lernen. Oft leiten sie ihr Begehren aber höflich mit einem "Ca va?" oder "Tu t'appeles comment?" ein.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts zum Verschenken habe. Zwei Pakete mit Gummibärchen-Tütchen habe ich zu Hause gelassen, weil ich mir zu doof damit vorkam. Kulis würden nur trocken und den Müllberg vergrößern, meinte Astrid - was sich angesichts der auf Feldern und Bäumen massenweise "wachsenden" Plastiktüten als Witz erweist. Wenigstens meine alten Buntstifte hätte ich verteilen können, ärgere ich mich.

In Sikasso sehen wir uns das Grabmal und den Palast des Königs von Kenedougou an, der im 19. Jahrhundert geherrscht hat. Es scheint eine etwas bessere Gegend zu sein. Der Unrat im offenen betonierten Abwassergraben am Rande der staubigen, unbefestigten Strasse hält sich in Grenzen. Wäsche hängt auf der Leine am Wegesrand. Wie üblich sind wir "babous" sofort umringt von Kindern. Viele Jungs tragen Fußball-T-Shirts von der französischen Nationalmannschaft oder anderen Ländern - vermutlich "cadeaus" früherer Durchgereister. Der Königspalast ist für dortige Verhältnisse ein imposantes Gebäude mit roten Lehmmauern. Wir dürfen die Nachkommen des Königs besuchen. Wie meistens tagsüber sind Frauen und Kinder da, Männer sind selten anzutreffen. Sie arbeiten auf dem Feld, erfahren wir einmal in einem Dorf. Die Frauen sitzen im Hof, stampfen Getreide oder waschen Wäsche mit der Hand. Wir schlendern umher, alle fotografieren. Mir ist es etwas unangenehm, schließlich stehen wir mitten in der Wohnung, denn das Leben spielt sich meist im Freien ab.

Tag 4
Heute haben wir einen Tag zum Ausruhen, beschummelt uns Reisebegleiter Jörg. Wir fahren fast den ganzen Tag Bus. Das heißt stundenlang mehr oder weniger gerüttelt werden in immer größerer Hitze trotz des zugigen Fahrtwindes. So langsam bildet sich eine fest Sitzordnung heraus. Ganz hinten sammeln sich die allein reisenden Frauen. Die Ehepaare belegen die Zweier-Plätze. Die Einzelplätze besetzen die beiden allein reisenden Männer. Astrid und ich ergattern meistens den Doppelsitz hinter den Reiseleitern. So hat man am meisten Einfluss auf Pinkelpausen und schnellen Zugriff auf die Wasserflaschen.
Unsere Betreuer sind ein gutes Gespann. Jörg ist ein Reiseleiter, wie man ihn sich nur wünschen kann - hinter allem her und um uns besorgt wie ein Papa. Adama lacht viel, ist in ganz Mali bekannt wie ein bunter Hund, und ohne ihn als Troubleshooter wären wir manchmal aufgeschmissen (so hat der Hamburger das "Hotel de Ville" in Sikasso für ein Hotel gehalten und es geknipst - doch es war das Rathaus, und der Wachmann ließ ihn genüsslich machen, ehe er ihm die Kamera abnahm. Öffentliche Gebäude, Kontrollposten oder Verkehrskreisel dürfen nicht fotografiert werden).
Adama könnte ein bisschen mehr über sein Land erzählen, ist aber nicht so sein Ding. Und natürlich Soryi, der Meister-Busfahrer der Herzen. Er ist ein stilles Wasser, strahlt uns alle immer an und freut sich, wenn alle guter Dinge sind, vor allem die Frauen.

Am Anfang rümpfen wir ein wenig die noch blassen Nasen über unseren, schon lange in Deutschland ausgemusterten Bus. Die grau-braun-gelben Vorhänge wurden noch nie gewaschen, die orange-braunen Polster sind abgeschabt. Die Klimaanlage geht schon lange nicht mehr, der Fahrtwind muss Kühlung verschaffen. Doch bald schon wissen wir, dass wir in einer Luxuskarosse dahinschweben. Die Fahrzeuge des öffentlichen Nahverkehrs in Mali sind Rostbeulen, die meistens unter doppelt so viel Passagieren wie zulässig ächzen. Menschen stehen auf der Stoßstange oder klammern sich auf dem Dach an das Gepäck. Nicht selten gehört dazu auch Lebendvieh. Auf dem Markt erworbene Schafe werden, Vorder- und Hinterläufe jeweils zusammengebunden, ineinander verschränkt wie ein Paar Schuhe auf das Dach gestapelt. Ich hatte keine Ahnung, dass man zwei Ziegen auf einen Fahrradgepäckträger schnallen kann, und dass lebendes Geflügel lange Zeit unbeschadet kopfüber am Fahrradlenker hängen kann.

Mit der Zeit wird der Bus zum sicheren Hafen, in den die Verkäufer und Cadeau-Jäger einem nicht folgen können. Sie stecken die Köpfe zur Tür rein, bieten Obst oder Gebäck an, wagen aber keinen Fuß auf die Stufen zu setzen. Diese Szene wiederholt sich bei jedem Stopp an Straßenkontrollen von Militär oder Gendarmerie. Vor jeder Stadt muss man an der Landstraße eine Maut zahlen und in der Regel noch Bestechungsgeld an die diensthabenden Uniformträger, deren Job offenbar ist, im Schatten auf einer Liege zu faulenzen. Adama regelt das. Manchmal kann es dauern, wenn es ein Diensthabender ist, der auf ein persönliches Gespräch wert legt. Allein das Begrüßungsritual unter Maliern braucht seine Zeit (Guten Tag, wie geht es dir? Danke, gut, und dir? Danke, gut, wie geht es deiner Mutter? Danke gut, und wie geht es deiner Mutter? Danke gut, und wie geht es deinem Vater?, .... und so fort mit Oma, Opa, Bruder, Schwester, Onkel, Tante und dem Rest der Sippschaft).
Je länger es dauert, um so bessere Chancen haben die Anwohner der Kontrollposten auf ein Geschäftle. An den Zwangshaltestellen haben sich Frauen und Jugendliche niedergelassen, um Proviant oder Souvenirs zu verkaufen. Mit Gebäck und Obst decken wir uns oft ein, von Tee oder kaltem Wasser in Plastiktüten lassen wir die Finger - auch wenn das ca. 40 Grad warme Industriewasser aus unseren Plastikflaschen einem spätestens am Nachmittag in der Gluthitze zum Hals heraushängt.
Die Kinder sind hinter unseren Flaschen her wie der Teufel hinter der armen Seele. "Budot", fordern sie. Mit der Zeit lernen wir, nur ein oder zwei leere Flaschen bei einer Horde von zehn Kindern am besten gar nicht herauszurücken, weil sie wie die hungrigen Wölfe um die Beute kämpfen. Dann gewinnen die Größten, oder die Flasche ist am Ende zertreten. Die Einheimischen können sich keine Wasserflaschen für 300 oder 400 Francs (45 oder 60 Cent) leisten, können sie aber gut gebrauchen, um Milch und andere Getränke zu verkaufen.
Die Geschäftstüchtigen klopfen an die Scheiben, rufen "Madame, Madame!" (die Männer werden fast nie angesprochen), schauen leidend oder starren uns gekränkt an. Wenn die spendierfreudige Rückbank aus dem Schiebefenster einige cadeaus purzeln lässt, hellen sich die Mienen auf - oder ein Ringkampf beginnt.

Tage 5 - 7
Endlich habe ich mich akklimatisiert! Gerade rechtzeitig zum Start der dreitägigen Wandertour durch das Land der Dogon. Sie gehören zu den drei ältesten nigritischen Stämmen Malis. Insgesamt gibt es etwa 30 Volksgruppen - so etwa das Fischervolk der Bozo, die nomadisierenden Viehzüchter Fulbe, die Bobos oder Touareg. Größte Gruppe sind die Bambara, deren Sprache auch zur Verständigung über die Stammessprachen hinweg eingesetzt wird. Die Amtssprache Französisch wird auf dem Land nur schlecht gesprochen. Oft gibt es auch keine französischen Schulen, sondern nur Koranschulen.
Die Dogon leben in Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, am Rande des Felsmassivs Falaise de Bandiagara. Es erstreckt sich über 140 km mit einer Höhe von 250 bis 300 Metern. Nach Südosten zieht sich eine dünn besiedelte und spärlich bewachsene Steppenlandschaft mit roter Erde bis Burkina Faso. Die Dörfer ranken sich vom Fuß der Falaise steil die Felswand hinauf. Am oberen Ortsrand befinden sich meist die Kultplätze und Grabhöhlen. Das Gewirr von kleinen quarderförmigen Lehmhütten, kugelrunden Speicherhäuschen mit spitzen Strohdächern und Höfen sieht idyllisch aus. Ein Stilleben in Braun- und Beigetönen.
Die Dogon sind Bauern. Hauptfrüchte sind Zwiebeln, die allerdings nur in Mali verkauft werden, und Baumwolle. Es wimmelt ansonsten von Federvieh, Schafen und Ziegen. Zwei Drittel der Fläche Malis sind Wüste, nur zwei Prozent werden landwirtschaftlich genutzt. Trotzdem leben vier Fünftel der Bevölkerung von der Landwirtschaft, allein ein Viertel hängt von der Baumwollproduktion ab. Die Subventionen der US-Regierung für ihre Cotton-Farmer haben zu einem kräftigen Preisrutsch beigetragen, der viele Bauern in Mali in den Ruin trieb. Die jungen Männer flüchten vor der Perspektivlosigkeit in die Städte oder durch die Wüste ans Mittelmeer, um mit dem Boot über die Kanarischen Inseln das gelobte Land Europa zu erreichen.
Zum Auftakt schauen wir uns das Vorzeigedorf Songo an. Wir entrichten eine Eintrittsgebühr an den Dorfchef und bekommen einen örtlichen Führer. Begleitet werden wir wie immer von einem Tross Kinder. Sie greifen nach unseren Händen und sind auf zielgerichtete Dialoge spezialisiert. (Wie geht's? Gut, und dir? Gut... wie heißt Du? ... Ich heiße Soundso. Geschenk? Stift?) Je stärker die Dörfer in Berührung mit dem Tourismus kommen, um so mehr sind die Kinder auf die "Geschenke" fixiert - Luftballons, Kugelschreiber, Buntstifte, kleines Spielzeug. Zunächst komme ich mir schofel vor, weil ich nichts dabei habe. Nach zwei Wochen Cadeau-Schlacht ziehe ich das Fazit, dass ich die Schenkerei für falsch halte. Wir helfen den Menschen nicht wirklich dabei, ihren eigenen Weg eines für sie sinnvollen Fortschritts zu finden, wenn wir dazu beitragen, dass schon den Kindern die Bettelhaltung eingeimpft wird. So muss sich von klein auf ein Bewusstsein festsetzen, die Schwarzen wären die Armen, die auf die Hilfe der Weißen angewiesen sind.
Natürlich leben die Menschen in für uns unglaublich einfachen Verhältnissen - auf den Dogon-Dörfern mit intakten Familien- und Dorfgemeinschaften gleichwohl noch viel besser als in den Städten. Doch brauchen sie wirklich unsere Second-Hand-Kleidung? Ich sehe keine Frauen in schlechter Kleidung. Warum laufen die Kinder in abgerissenen T-Shirts dreckverschmiert herum? Vielleicht nur, weil man in einem staubigen heißen Land die Kinder nun mal nicht adrett und sauber kleiden kann?
Ich spende eine für dortige Verhältnisse hohe Summe für den Bau einer Schule in Songo. Später erfahren wir von einer Deutschen, die in Adamas Heimatdorf die Anschaffung einer Getreidemühle über Spenden organisiert hat und nun Geld für einen Brunnen sammelt, dass der Dorfchef von Songo der einzige Fernsehbesitzer des Ortes ist und das meiste Geld für sich einstreicht. Ich bin gespannt, ob die Schule in Songo jemals gebaut wird.
Doch auch mit Hilfsprojekten ist es so eine Sache. Endlich reichte das Geld für den Kauf der Getreidemühle, wie die deutsche Helferin erzählt. Sie sollte die Frauen vom stundenlangen Hirsestampfen befreien, damit sie mehr Zeit haben, Textilien für den Handel zu produzieren. Aber dann fehlte das Geld für den Sprit, um die Mühle zu nutzen. Ich steuere 30 Euro zum Brunnenbau bei, der im Mai beginnen soll.
Im Dogon-Land geht es mir gut. Die Landschaft ist schön - hier die Felsen und die Dörfer und im Tal die mühsam per Hand bewässerten dunkelgrünen Zwiebelfelder mit vielen grauen Baobab-Bäumen. Die Luft ist klarer. Der Himmel ist blau und nicht sandstaubdiesig. Ich schlafe wunderbar auf dem Dach unseres ersten "Gasthofes" im Moskitodom. Die Sterne sind so nah, dass ich Kurzsichtige ohne Brille den großen Wagen sehen kann.
Morgens gegen halb sechs werden die Hähne wach. Es müssen etwa hundert sein, die sich ausgiebig unterhalten. Das ruft die Schafe, Ziegen und Esel auf den Plan. Kurz nach Tagesanbruch geht der Alltag im Dorf los - die Frauen gehen Wasser holen mit großen Schüsseln auf dem Kopf. Für viele ist das ein ganz schöner langer Ab- und wieder Aufstieg mit etwa zehn Kilogramm auf dem Kopf. Die Frauen der Dogon seien stärker als die Männer, erzählt uns Adama. Die Männer sieht man meistens nicht, sie arbeiten auf den Feldern, heißt es.

Auch unser Alltag beginnt - in der Dämmerung rasch anziehen, Katzenwäsche, Zelt abbauen, Klamotten packen, Frühstücken. Dieses bringt immer ein Moment der Kontinuität in unser zweiwöchiges Nomadentum: jeden Morgen gibt es Baguette (in Timbuktu dann Fladenbrot mit Sand, wirklich gut), Butter, Marmelade, Frischkäse der Marke "La vache qui rit", und - während unserer Selbstversorgung als Schmankerl - Nuss-Nougat-Creme! Dazu gibt es Pulverkaffee mit Milchpulver oder Lipton-Tee. Ab und zu gönnen wir uns Papayas und Mangos zum Nachtisch (letztere nur, wenn es Waschgelegenheiten und Zahnseide griffbereit gibt).
Immer pünktlich wie die Maurer sind wir ab acht oder neun Uhr zu Abmarsch oder Abfahrt bereit. Die Wanderetappen sind wie versprochen nicht schwer und nicht sehr lange. Eine Abstiegstour von Douro nach Nomburi. Eine ebene Wanderung im Tal von Nomburi bis Tirelli. Und von dort wieder der Aufstieg auf das Plateau hinauf. In der Hitze kann man nicht lange über den Mittag hinaus laufen.
In den Dörfern erfahren wir einiges über die Struktur der Dorfgemeinschaft, traditionelles Handwerk wie die Baumwoll-Verarbeitung und das Beschneidungsritual. Die Jungs werden im Alter von circa zwölf Jahren beschnitten, die Mädchen bei den Dogon angeblich nicht. Die verstümmelnde Klitorisbeschneidung muss in Mali allerdings noch weit verbreitet sein, denn die Hilfsorganisation World Vision ruft mit Werbetafeln dazu auf, die grausame Praxis abzuschaffen. In Nomburi bestellen wir uns einen Maskentanz auf dem Dorf-Tanzplatz. Der Ältestenrat des Dorfes kommt, in traditionellen indigoblaue Gewändern mit Fulbe-Hüten oder den traditonellen Dogon-Zipfelmützen auf dem Kopf. Einige von ihnen trommeln. Die Tänzer tragen schwere Holzmasken, die Fruchtbarkeit, Jagd oder die Gründer-Generationen der Dogon symbolisieren, dazu Kostüme aus leuchtend gelbem und pinkfarbenem Bast. Ich erwarte, dass das ganze Dorf zusammenläuft. Doch außer einigen Kindern, die in einigem Abstand fröhlich mittanzen, kommt niemand. Die Frauen dürfen sowieso nie dazu, es sei denn sie sind weiß und bezahlen.

Außerhalb unserer Ruhezonen werden wir auch bei den Dogon auf Schritt und Tritt begleitet von Kindern, die etwas verkaufen wollen oder das ein oder andere Geschenk gebrauchen könnten.
Helmi macht eine lehrreiche Erfahrung, wie man Kleiderspenden nicht verteilen sollte. Sie packt bei einer Gruppe Frauen und Kindern, die im Nu immer größer wird, ihren gesamten Bestand aus, was in einer einzigen Rauferei endet. Lollo wartet auf den richtigen Moment und geht in Städten in der Frühe oder am Abend alleine los, wenn sich der Aufruhr über die Gruppe Touristen gelegt hat, und steckt einzelnen Frauen oder Gruppen von Straßenkindern (nichts anderes sind die so genannten Koranschüler oft) einige Kleidungsstücke zu. "Spielt's ihr wieder WorldVision?", kommentiert ihr Ehemann Gerhard die Aktionen trocken, zieht aber auch oft beiläufig eine Kleinigkeit aus dem Rucksack für geduldige Mitläufer.

Am dritten Wandertag verlassen wir das Dogon-Land mit einem anstrengenden Aufstieg hinauf auf die Falaise. Dafür sind zwei Stunden vorgesehen - wir schaffen es etwa in der Hälfte der Zeit. Kein Wunder, dass mir fast die Luft weg bleibt! Während ich meinen kleinen Rucksack an einen Bub zum Tragen abgebe und genug mit mir selbst zu tun habe, schleppen Dogon-Frauen in Flipp-Flopps oder barfuß unser Gepäck auf dem Kopf den Berg hinauf!

Zum zweiten Mal im Hotel Sévaré haben wir Glück und eines der zwei schönen Zimmer des Hauses erwischt, das ansonsten eine rechte Bruchbude ist und die Butter zum Frühstück streng rationiert auf 20 Gramm pro Person.
Am Nachmittag erleben wir das erste Mal Mopti - die Hafenstadt mit dem größten, wildestens täglich stattfindenden Markt des Landes. Am Hafen, wo Pinassen und Pirogen mit Waren anlegen, gibt es Salzplatten, Kalebassen und vor allem getrockneten Fisch zu kaufen. Während wir uns durch das Gewühl von Händlern und Käufern zwischen den riesigen Körben und Kartons voll undefinierbarer ledrig-brauner Fischteile kämpfen, atme ich ganz flach. Es riecht, als wäre eine gigantische Dose verrotteten Katzenfutters geöffnet worden (übrigens gibt es fast keine Katzen in Mali und auch wenig Hunde, nutzlose Haustiere kann sich wohl kaum jemand leisten, und Katzen fangen und kochen ist ein bliebtes Kinderspiel).
Direkt am Hafen liegt die Bozo-Bar (Bozo ist der Stamm der Fischer) - eine Touristen-Schutzzone, wie Beate sagt. Der schmale Eingang wird von einem Polizisten bewacht, sodass nur vereinzelt Schmuck- und CD-Händler - vermutlich gegen Provision - hineinkommen. Von der Terrasse hat man das Treiben an den Booten gut im Blick. Die Händler geben auch dann nicht auf, wenn man auf den Aussichtspunkt geflüchtet ist - sie recken die Hände mit Halsketten in die Höhe und entfalten bunte Decken. "Madame, Madame - bon pris!"
Auf dem anderen Markt ist das Tohuwabohu noch heftiger. Dort gibt es Obst, Gemüse, Gewürze und Kräuter, die neben Frischfisch und allerhand Undefinierbarem wie üblich auf Decken auf dem Boden liegen. Auch Riesen-Fleischstücke - etwa ein Viertel Rind - werden zerhackt, von Fliegen umschwärmt. Das Gedränge in diesem bunten Chaos ist so dicht, dass wir uns fragen, wie überhaupt was gekauft werden kann. Zu unserer Überraschung und entgegen aller eindringlicher Warnungen beklaut uns niemand in dem Gewühl. Im oberen Stockwerk der Markthalle sind die Schmuck- und Maskenshops - hier finde ich die schönsten Halsketten während der ganzen Reise.

Tage 8 - 10
Wir schicken uns an zum nächsten Höhepunkt der Reise - drei Tage Pinassenfahrt auf dem Niger. Eine Pinasse ist ein größeres Boot mit Motorantrieb. In der Mitte etwa 2,50 Meter breit und circa zwölf Meter lang. Mehrere Streben aus Bambus tragen ein geflochtenes flaches Dach, auf das sich jeweils zwei Leute zum Sonnen legen können. Jetzt ist auch unsere wichtigste Frage beantwortet: Es gibt ein Klo. Ganz hinten ist ein dachloses Holzhäuschen mit einer kunstvollen Donnerbalken-Konstruktion und einem Stock an der Wand zum Festhalten. Im Boot hin und her kann man nur balancierend außen über den Rand. Die handgebauten Boote sind niemals dicht, sodass das unten liegende Gepäck am Bug nass wird, und am Heck eifrig Wasser hinausgeschöpft werden muss. Adama wird nun von einer vierköpfigen jungen Besatzung verstärkt: Kapitän Tamtam, eine beleibte, bisweilen schlecht gelaunte Köchin, ihr Freund und ihr kleiner Bruder. Die drei sind die Küchencrew und halten den kleinen Kohleofen in Gang. Morgens frühstücken wir zum Sonnenaufgang schon im Boot. Mittags und abends gibt es eine Kombination Kohlehydrate - Kartoffeln, Reis, Nudeln, Yam - mit Sauce - Gemüse, mal mit frisch gefangenem Fisch oder unterwegs gekauftem, fliegenumschwirrten Fleisch (besser nicht hinsehen, schmeckt aber gut).
Der Fluss ist jetzt in der Trockenzeit mal wenige Meter breit, mal so groß wie ein See. Das Wasser ist so flach, dass die Fischer oft nur bis zur Hüfte drinstehen und wir einmal auf einer Sandbank aufsetzen. Am Ufer gibt es nicht viel Abwechslung - Dörfer mit Lehmhütten, Lager mit Strohhütten der Fulbe, die ihre Herden tränken. Ab und zu ein paar Bäume und Palmen. Hin und wieder legen wir an bei Siedlungen, etwa um Holz zu kaufen. Unser Besuch verursacht den üblichen Aufstand. Karl-Heinz gibt mit seiner Verfolgergruppe Kinder einmal den Rattenfänger von Hameln.
Wir vertreiben uns die Zeit mit Lesen, Schwätzen, Essen, Gucken, auf's Dach und wieder herunter Klettern, bis es schief hängt. Zweimal erleben wir Mali wildlife: "Hippo!", ruft Adama. Am Ufer badet eine Flusspferdmutter mit Kind in der braunen Brühe.
Mit wilden Tieren ist es in Mali ebenso mau wie mit atemberaubender Landschaft. Stattdessen trifft man Menschen, Menschen, Menschen im Alltag - ein fröhliches buntes Volk mit unterschiedlichem Aussehen, Kleidungsstil und Naturell. Hier die quirligen Fulbe, deren Frauen sich die Lippen und eine runde Partie um den Mund herum pechschwarz tätowieren - dort die unnahbaren stolzen Touareg mit scharfen nordafrikanischen Gesichtszügen, deren Männer in den dunkelblauen Boubous sich mit Turbanen bis auf die Augen verschleiern, weil Mund und Nase unrein sind.

Tage 11 + 12
Nach drei Tagen und 450 Flusskilometern erreichen wir ausgeruht die Hafenstadt von Timbuktu und legen das letzte kurze Stück bis zu der sagenumwobenen Stadt mit Buschtaxis zurück. Jetzt sind wir am Rand der Sahara. Dort, wo schon vor tausend Jahren die Karawanen der Touarege mit Salzplatten aus der Wüste ankamen, und mit Gold und Elfenbein gehandelt worden sein soll. Im 15. Jahrhundert war Timbuktu ein geistiges Zentrum des Islam mit einer Universität, an der 20.000 Studenten auf Arabisch nicht nur den Koran, sondern auch Recht oder Medizin studierten. Die europäischen Forscher schafften es lange Zeit nicht, die Stadt zu erreichen. Ehe der Deutsche Heinrich Barth 1854 für ein knappes Jahr in Timbuktu überlebte, kamen mehr als 40 Entdeckungsreisende in Westafrika ums Leben. So entstanden Legenden, in Timbuktu seien die Straßen mit Gold gepflastert. Der Schotte Laing, der Franzose Caille und nach ihnen Barth fanden im 19. Jahrhundert dagegen eine Ansammlung Lehmhäuser im Sand, die sich nicht viel vom heutigen Stadtbild unterschieden haben dürfte. Wir betrachten bei der Stadtführung die Häuser, wo die Herren Forscher mehr oder weniger lang wohnten, und zwei große Moscheen. Die größte Bibliothek bewahrt die Schätze der einst glanzvollen Geistesepoche auf. Die jahrhundertealten Schriften mit vergoldeten Kalligraphien und Ornamenten liegen zum Teil offen in der kleinen Ausstellungskammer herum. Die Luft sei trocken genug, um die Bücher zu konservieren, erklärt der Bibliothekar.
Am Abend unseres leider einzigen ganzen Timbuktu-Tages steht die Wüste auf dem Programm. Die Hälfte der Gruppe sitzt auf Dromedaren auf, die sich stets nur unter Protestgeschrei erheben oder niederlassen, und schaukelt zwei Stunden zwischen Dünen und Gebüsch in ein Touareg-Lager außerhalb der Stadt. Ein wenig kann ich von der Ruhe und Freiheit spüren, die die Wüste ausstrahlt.
Um neun Uhr - und damit für unsere Verhältnisse spät am Abend - begeben sich die Touareg zu dem von uns erstandenen Folkloreabend. Etwa fünfzehn Frauen in schwarzen Gewändern mit Schleiern, erleuchtet von einem Lagerfeuer, trommeln und singen. Drei, vier verschiedene Männer tanzen einzeln oder zu zweit dazu. In den Pausen wird Tee gereicht. Der Clan-Chef steht uns am Ende noch für einige Fragen zur Verfügung, erzählt von Salz- und Viehhandel, dem Umherziehen. Viel ist ihm nicht zu entlocken. Die Nomaden schrecken vor technischem Fortschritt nicht zurück. Zwischen zwei Tänzen fischt einer der Protagonisten sein klingelndes Handy aus den Falten seines Gewandes hervor.
Die Touareg ziehen in Mali und den Nachbarländern umher. Ihr Aufstand Anfang der 90er Jahre war der einzige größere bewaffnete Konflikt in dem 1960 von Frankreich unabhängig gewordenen Land. Es ging um Landrechte und Diskriminierung. Noch heute gibt es etwa 3000 Touareg-Rebellen, die für Autonomie kämpfen. Der letzte größere Angriff war im Mai 2006 auf eine Militärstellung in Kidal. Während unseres Aufenthaltes gaben in Nord-Mali wieder einige hundert Touareg freiwillig die Waffen ab.

Tag 12
Nun steht uns die unbequemste Strecke der Reise bevor: Von Timbuktu aus gibt es keine geteerten Straßen. Am anderen Flußufer beginnt eine 200 km lange Buckelpiste, die nur mit Jeeps zu überwinden ist. Unser Fahrer, Mohammed, ist recht geschickt. Trotzdem fliegen wir oft fast mit dem Kopf an die Decke. Mohammed ist Touareg, vielleicht 25 Jahre alt. Als Ältester von sieben Geschwistern ist er mit verantwortlich für das Überleben der Familie, die nördlich von Timbuktu lebt. Er fährt die strapaziöse Strecke oft hin und zurück an einem Tag. Als Fahrer verdient er monatlich 45 Euro. Die Familie komme eher schlecht als recht über die Runden. Mohammed erzählt mir, dass er schon geschieden ist, was nicht ungewöhnlich ist. Die Partner für die erste Ehe werden - in wohl allen Stämmen - von den Eltern ausgewählt. Das geht häufig schief. Und Scheidungen sind - anders als ein Abschaffen der überkommenen Tradition - kein Tabu.
In Douentza steigen wir vom Jeep in unsere Sänfte, den Bus um. Eine Stunde vor Djenné kriegen wir mal wieder den Mali-Blues (so auch der Buch-Titel des Mali-Reiseberichts der belgischen Journalistin Lieve Joris, die darin allerdings einen der bekannten Blues-Sänger des Landes poträtiert, sehr ergreifend). Ein Reifen platzt. Adama und Soryi reparieren flott, nach einer Stunde geht es weiter.

Tage 13 - 15
Djenné ist anders, und es soll die schönste Stadt Malis sein. Die sudanische Architektur ist ansprechend. Die Gassen laden zum Umherstreifen ein - wenn man nur die Sorge abschütteln könnte, sich in dieser stadtplanfreien Welt heillos zu verirren. (Letztlich würde man wohl immer einen geschäftstüchtigen Jungen finden, der einem zur Moschee zurückbringt.) Wir nächtigen in einem Campement, das aus mehreren Gebäuden mit mehr oder weniger einfachen Zimmern besteht. Wir erwischen ein passables mit eigener Dusche. "Wir haben das große Los gezogen!", freue ich mich, da es einige hart getroffen hat mit noch kleinerem Zimmer und Gemeinschaftsdusche. Ich packe so schnell wie möglich aus und schmeiße die verschwitzten Klamotten von mir, drehe erwartungsfreudig am Wasserhahn - nichts. Nun ja, müssen es mal wieder die feuchten Kosmetiktücher tun, damit wenigstens der Hals nicht mehr schmutzbraun ist.
In der Mitte der Anlage ist ein Terrassenrestaurant. Hier sammeln sich die weißen Touristen in ihrer "Schutzzone". Einige andere Deutsche und Franzosen, die ein noch deutlich höheres Durchschnittsalter haben als wir mit unseren etwa 50 Jahren. In einer Gruppe, die mit einem englischen Reiseveranstalter in einem großen Truck ganz Afrika durchquert, sind einige junge Leute aus Kanada, Australien, den USA, Neuseeland und Europa.
Natürlich sind wir extra am Montag in Djenné, denn dann kommen aus weitem Umkreis die Bauern und vornehmlich Bäuerinnen zum großen Montagsmarkt - zu Fuß, mit Eselskarren oder vollgestopften Lastwagen. Am Marktplatz steht das Wahrzeichen Djennés - die älteste und größte Lehm-Moschee der Welt. Sie muss jedes Jahr vor der nächsten Regenzeit mit speziell bearbeitetem Lehm aus dem fast ausgetrockneten Fluss neu verputzt werden. Die verschiedenen Stadtviertel treten gegeneinander an und liefern sich einen Wettbewerb. Touristen, die sich dieses Spektakel ansehen wollen, dürften die Kamera rasch beiseite legen, denn sie müssen mithelfen bei der großen Schlammschlacht.
Wir sehen in Djenné interessante Ecken. Zum Beispiel können wir beobachten, wie die Lehmbausteine oder der Verputz hergestellt werden. Da die Lehmhäuser auf Lehmböden stehen, ist die Ziegelei gleich vor der Haustür. Ein Stück des Bodens wird aufgepickelt, die Erde mit Wasser immer wieder durchgearbeitet wie ein Brotteig. Einige Tage muss der Teig unter einer Plane ziehen und wird mehrmals aufbereitet. Wenn die Konsis-tenz stimmt, werden Steine geformt, die in der Hitze innerhalb eines Tages trocknen.
Wir können einen Blick in eine Koranschule werfen. Viele Familie schicken ihre Kinder ab dem Alter von sechs Jahren, manchmal von weit her, in eine der 60 Koranschulen der Stadt. Dort müssen die Schüler arbeiten und betteln gehen für den Lehrer, den Marabu. Die Kinder lernen nur vom Zuhören Passagen aus dem Koran auf Arabisch auswendig - ohne jemals die Sprache zu lernen. Wir haben Zweifel, ob im Unterricht außer Nachplappern auch über den Sinn des Textes gesprochen wird.
Wir hören eine traurige Geschichte aus den Gründertagen Djennés. Jahrelang versuchten die Siedler vergebens, eine Stadt zu bauen. Denn in der Regenzeit spülte der Bani, der die Stadt umgibt, alle Hütten weg. Schließlich hieß es im 13. Jahrhundert, nur eine schöne junge Frau, die einziges Kind ihrer Eltern sei, könne die Stadt retten. Tapama sollte sich von ihrem Bräutigam lebendig einmauern lassen, was nach einigen dramatischen Verzögerungen auch geschah. Ihr Grabmal ist noch heute zu besichtigen.
Der Markt in Djenné ist so wie all die anderen schwer zu beschreiben. Man muss ihn riechen, sich durch ihn hindurchschlängeln. Man müsste sich am besten mitten hineinsetzen und stundenlang nur zuschauen, wenn man sich nur unsichtbar machen könnte. Wir schauen uns das Gewusel gegen Eintritt vom Dach eines Hauses noch einmal in Ruhe an. Dort machen wir ein bisschen Quatsch mit den Kindern, die tatsächlich um kein cadeau bitten - es geht also auch anders.

Wie immer ist der Aufenthalt eigentlich zu kurz. Doch wir rüsten uns für die Schlussetappe unserer Reise von Djenné über Ségou nach Bamako und von dort via Casablanca nach Hause. Wir schauen uns Alt-Ségou an, das man nicht ohne Obolus ans Dorf betreten darf. Der Dorf-Chef präsentiert sich zum Fototermin und zur Pressekonferenz. Es wirkt wie ein einstudierter Auftritt. "Gebt ihm bloß nicht die linke Hand, sonst wird er stinksauer", bläut uns unser stets umsichtiger Reiseleiter ein (als würde man jemandem bei uns die linke Hand geben). Naja, die linke Hand ist halt bäh, weil man damit, ihr wisst schon was macht. Gerhard, der die Filmkamera laufen lässt, sagt: "Kann ihm jetzt mal jemand bitte die linke Hand geben, nur so zum Spaß?" Leichter Zynismus greift um sich. Ich will dem aufgeblasenen Kerl gar nicht die Hand schütteln, ich will ihn auch nicht knipsen, und von Dörfern habe ich langsam die Schnauze voll. Immerhin, der Dorfchef macht einen Witz. Es ist zwar nicht statthaft, ihn nach seinem Alter zu fragen, aber er erzählt uns, er habe drei Frauen und wolle noch eine vierte - das müsse aber eine Weiße sein.

Tag 16 - 18
Eine letzte lange Strecke mit dem Bus steht an. Seit Ségou habe ich Bauchschmerzen und Durchfall. Das wäre nun nicht nötig gewesen. Ebenso wenig wie die letzte Episode des Mali-Blues, bei der wir nicht weit vor Bamako nur knapp an einer Katastrophe vorbeischrammen. Wie die sachkundigen Männer der Gruppe gleich feststellten, ist der neue Reifen, den jemand über Nacht mit dem Bus von Bamako bis Djenné zum Aufmontierten geschleppt hatte, eine Nummer zu groß. Nun fahren wir schon eine Weile mit zwei unterschiedlich großen Doppelreifen hinten links. Nach einem Ausweichmanöver an den Randstreifen gegen einen der rücksichtslos rasenden Lkws springen beide Reifen ab. Der Bus schwankt und schrappt mit Tempo 80 auf der Nabe und der Karosserie weiter. 30 Sekunden, in denen alle durcheinander reden, sich festkrallen und Stoßgebete schicken. "Ausrollen lassen, ausrollen lassen!", rufen die sachkundigen Männer. "Lasst Soryi nur machen", schreit Jörg. Der hält mit aller Kraft den Lenker gerade, schafft es aber noch, beruhigend eine Hand zu heben. Wir kommen zum Stehen. Der Bus kippt nicht. Kein Laster kommt entgegen. Schwein gehabt. Wie immer herrscht gerade glühende Hitze. Was wäre Mali ohne Blues? Immerhin, für mich gibt es ein nettes Gebüsch.