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Jede Sekunde ein Gefallen


Mandalay, Myanmar, 21.12.2012


Genau heute vor 25 Jahren traf ich die Entscheidung, Brückenbauer der Armen zu werden. Nachdem
ich sieben Wochen an der ETH Zürich studiert hatte, beschloss ich, mich wieder abzumelden. Mein
Herz und meine Verstand zusammen hatten meine Ängste um eine unsichere Zukunft besiegt.
Studium, Freunde, Sport, Lichter der Bahnhofstrasse mit den Schaufenstern voll von
Weihnachtsluxus ­ all das schaffte es nicht, den eindringlichen Ruf aus der Tiefe zum Schweigen zu
bringen. Im Gegenteil: Sie verstärkten den Kontrast zu den Erinnerungen der sechs Monate, die ich
soeben in der Erdbebenzone des Vulkans Reventador in Ecuador durchlebt hatte.

Ich ging in die Berge in mein verschneites Dorf Pontresina, um mich von meinen Eltern zu
verabschieden. Meine Entscheidung war getroffen: ich würde in den Dschungel von Ecuador
zurückkehren und mit all meinen Kräften meinen eigenen Weg suchen.


25 Jahre später

Bis heute haben wir 607 Hängebrücken gebaut im Dienste von 1,7 Millionen armen Bauern, mit
geschenkten und wiederverwerteten Stahlröhren und Stahlseilen. Ich finde keine exakte
Beschreibung, um zu definieren, was wir tun. Denn wir sind keine NGO, keine Firma, kein politische
oder religiöse Gruppierung, wir haben weder ein Büro, ein Zuhause, eine Fahne noch einen
Facebook-Account.

Und trotzdem: Wie ein mythischer Faden verbinden sich die Freundschaften und die Brücken
entlang dieser Odyssee.

Vor zwei Wochen hat Walter Yánez, mein Brückenbauerkollege seit 21 Jahren in Ecuador, unsere
Brücke Nummer 600 aufgestellt. Und er wusste es nicht einmal. Und wir feierten es auch nicht.

Um zwei Uhr nachmittags vollendete er eine schöne 93 Meter-Brücke in Matamba über den Río
Quinindé, den Grenzfluss zwischen den Provinzen Manabí und Esmeraldas. Am selben Tag, jedoch 12
Stunden früher wegen der Zeitverschiebung, haben wir hier in Asien die Nummer 599 aufgestellt in
Ngerayung, in der Nähe von Trenggalek, Provinz Jawa Timur, Indonesien. Und nur gerade 10 Stunden
nach jener Brücke von Walter stellten wir die Nummer 601 fertig, und in den folgenden vier Tagen
vier weitere Brücken. Es war eine Serie von 8 Brücken, aufgestellt in acht Tagen.


Und es funktioniert

Vor einem Monat haben die lokalen Behörden in Vietnam bei den 58 Hängebrücken im Mekong-
Delta etwas Aussergewöhnliches unternommen: Während zwei Tagen, von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang , zählten sie die Brücken-Überquerungen zu Fuss, mit dem Fahrrad, dem
Motorrad, im Rollstuhl. Sie stellten fest, dass 38`126 Personen pro Tag die Brücken überqueren.
Mehr als die Hälfte sind Schüler; die Anderen gehen zur Arbeit, zum Markt, in die Spitäler, in die
Regierungsbüros etc. Das bedeutet, dass jedes Jahr 13,9 Millonen Menschen über diese Brücken in
Vietnam gehen.